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Gedanken während des Fahrradfahrens

Gedanken: Sieglinde Bölz, Textbearbeitung: Dr. Kleinschnieder

Gedanken während des Fahrradfahrens 1

Ich muß die Fahrt nicht anderen anpassen, schnelleren,langsameren . . . Sie ist allein mir selbst angepaßt; die Leistung wird stimmig. Ich merke, wie verläßlich meine Sinne sind, Sehen, Hören, Fühlen; indem ich mich den Sinnen überlasse, verfeinern sich die Instinkte. Ich spüre das Wetter - Temperaturen messe ich mit dem eigenen Körper. Tagesablauf: er fordert, nimmt, verändert. Was meine Existenz sichert: das Fahrrad und das Gepäck darauf. Alles wechselt ringsum, nur eins bleibt: die Mittellinie, der Wegteiler.

Gedanken während des Fahrradfahrens 2

Körperfühligkeit: Muskeln, Glieder, Organe sprechen. Wenn sich das Wetter ändert, geht der Blick hoch den Wolken hinterher, sinkt ab zu schwankenden Baumwipfeln. Was stören könnte: ich höre nicht, sehe nicht hin. Ungestörte Zeit des Beschaulichen, Intimität: außen ist innen. Ungestörte Zeit der Einsamkeit, Begleiter brauche ich nicht. Einsamkeit läßt das Selbst spüren, Sorge wird Vitalität. Die Norm beginnt bei der Bewegung. Bewegungsenergie ist Lebenselixier. Bewegung ist Lebensbewegung. Meine Energie, gehütet wie ein Schatz, sorgsam gebraucht, erneuert. Der Durst zählt; Hunger kann vernachlässigt werden, nie der Durst. Im Bedürfnis nach Wasser spüre ich meine Existenz. Wasser, aus den Händen der Natur, erweist sich als Element. Ich beobachte, wie sich Wasser bewegt (Regen, Rinnsal, Bach; Wasserfall, Fluß), bewegt und ruht (Meer; und Schnee). Wasser wird gekostet: ist es gut? Klares Wasser ist wertvoll, seine Transparenz steigert sich zu Türkis: eine Kostbarkeit.

Gedankenwährend des Fahrradfahrens 3

Dunkelheit, Halbdunkel. Dunkel umschließt das Innen; Geschlossenheit, Gefaßtheit. Die Fahrreaktion orientiert sich an Gerüchen, Geräuschen; dem Auge bleibt etwas Helldunkel. Volumen wird Fläche. Der Himmel verliert sich, der Raum schrumpft, Dunkelheit umschließt den Innenraum; drinnen, in der Empfindung verkehrt sich der Tag zur Nacht. Gefühl der Vertrautheit, der Sicherheit: daraus quillt Wohlempfinden. Fahrinstinkte werden bestimmter, Verläßlichkeit auf die gewachsene Sensibilität; das Gehör schärft sich, schneidet Geräusche aus dem Dunkel. Reifen sind Schuhsohlen, durch die ich den Boden fühle. Wohlempfinden wird schließlich Versunkenheit: Suche nach einer Übernachtung: rasten, ruhen, erholen.

Gedanken während des Fahrradfahrens 4

Hitze: Sehnsucht nach dem Windkanal. Schweiß kühlt im Fahrtwind ab - dünner, kalter Film, der über die Haut fließt; 5°C kälter als die Haut. Wenn es zu heiß wird, führt der Umweg über die Berge; hinauf aus der Hitze, von 40 hoch zu 25°, Temperatursturz im Aufstieg. Wegänderung spart Kräfte, erfrischt. Kein Wegplan, kein Planweg. Der Weg entsteht aus der Fahrt; ich versuche mich voranzufinden; der Weg ergibt sich. Sehen und Fahren, Fahren und Sehen; der Weg ist die Linie, entlang der ich die Natur erfahre. Die Energie, die ich einsetze, entspricht dem Quantum erfahrener Natur; die Natur, die ich erfahre, entspricht dem Quantum eingesetzter Energie Naturerfahrung fordert Bewegung; tägliches Unternehmen, Bewegung zu geben; soviel die Natur fordert Der Boden wird genau registriert ( Stein, Scherben, Unebenheiten), Bodeninventur. Der Weg mit dem Fahrrad ist der größte Umweg, die längste Umleitung. Berg, Tal falten den Weg über Höhe und Tiefe. Der Weg ist kein geometrischer Querschnitt; Berge sind nicht wegzurechnen. Künstlich: die geometrische Ebene; natürlich: ansteigendes und abfallendes Land. Anstieg und Abfall: der Weg schmiegt sich in die Natur

Gedanken während des Fahrradfahrens 5

Landschaft. Wo ich herfahre, nehme ich auf; lasse hinter mir und behalte dennoch. Der Augenblick wird intensiv: nicht mehr der unbesehene Sprung des Sekundenzeigers; vielmehr die Landschaft, zwischen zwei Wimperschlägen in mich einfließend und im Blick der Augen wieder hinausgestellt. Reine Natur, wild und ruhig - sie ist schön, ringsum und in mir. Kultur verblaßt, Zivilisation bleibt zurück, ist nur noch da in der schmalen Spur des rollenden Rades. Wo der Weg den Horizont kreuzt: dahinter ist das Ziel, wieder und wieder; Sehnsucht zieht von dorther. Ich wende niemals, ich schaue nach vorne in die Richtung meines Weges. Wegentscheidung ist Selbstentscheidung; nur ich selbst entscheide, für mich selbst allein. Endlich alleine, Gefühl der Unabhängigkeit, der Selbstbehauptung. Fröhlichkeit des Besitzlosen; ich fühle mich leicht. Luxus zieht nicht. Ich übernachte einfach. Eine Pension, eine Jugendherberge, oder draußen unter einem Baum, in der Nähe eines Dorfes. Landschaftsraum, mit den Augen durchmessen, durchfahren; was zu sehen ist, der Umraum, von den Grenzen der Blicke her zu mir. Extreme Konturen (Gebirgskämme, Grate) sind dynamisch, rasen den Blick entlang; und sind edel in ihrer Ruhe. Je größer der Umraum, um so gewaltiger das Echo, mit dem er Blicke zurückwirft.

Gedanken während des Fahrradfahrens 6

Bild steht vor Begriff. Bildlichkeit steht vor Begrifflichkeit. Erleben statt Definieren; im Blick hinnehmen, statt in Gedanken abzutasten. Hinnehmen: reine Empfindung. Das Bildgedächnis sammelt Landschaften, Empfindungen. Abrufbar als sinnliche Projektionen, geworfen auf das, was auf mich eindringt; verschmelzend, sich trennend. Radfahren sensibilisiert, Sinnlichkeit erneuert sich. Die Farbpalette frischt sich auf. Farbe ist die klare und starke Lichtemfindung; das Licht ist grell und stechend. Im Atelier war die Farbe reduziert, gedämpft und abgedunkelt. Regennässe bringt die Farben zum Glänzen und Leuchten. Schmerzgrenze des durch die Augen Erfahrbaren, überblendet und überstrahlt; ekstatische Sinnesüberreizung, die reinigt, befreit zum elementaren Erlebnis. Ich bin einfach frei.

Gedanken während des Fahrradfahrens 7

Zeit. Es ist nie zu spät. Aus den Augen, aus dem Sinn; nur das augenblicklich Gesehene zählt. Alle Kraft im Erlebnis des Augeblicks, ballt sich, strömt über. Heute zählt, Morgen kommt von selber. Der ganze Tag ist Radfahren. Vagabundieren akzeptiere ich nicht. Pausenstop, nicht mehr als: Einkaufen, was nötig ist; bißchen entspannen; eine Mahlzeit. Der Tag ist erfüllt mit 140 km; er wäre sonst kein erfüllter Tag. 

Das Labyrinthkonzept

Sieglinde Bölz stellt in diesem Buch ihr Kunstkonzept dar. Sie reflektiert ihren künstlerisch kreativen Prozess und bezieht Stellung.

Titelblatt "Das Labyrinthkonzept"